Über das Verhältnis von Natur und Übernatur
von Albert Maria Weiß O.Pr.

Anhang aus: Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade. Frei nach P. Eusebius Nieremberg S. J. dargestellt von Dr. Matthias Joseph Scheeben. Neu bearbeitet durch Fr. Albert Maria Weiß O. Pr., Freiburg i. Br. 1925.


1. Der Heilige Geist, dem dieses Buch geweiht ist, hat es in unerwartet kurzer Zeit dem Herausgeber zurückgesandt, damit dieser nochmals daran bessere und ergänze, soviel in seinen schwindenden Kräften steht, insbesondere aber wohl deshalb, damit er es noch mehr in den Stand setze, seiner Aufgabe gegenüber den heutigen Zeitverhältnissen soweit wie möglich gerecht zu werden.

2. Schon die früheren Auflagen mußten darauf hinweisen, daß die jetzt zur Herrschaft gelangte Geistesrichtung in starkem Widerspruch steht mit den Glaubenslehren, die in dem vorliegenden Werke dargestellt sind. Darum hat es der Bearbeiter mit großer Sorgfalt so auszugestalten gesucht, daß es den nach Wahrheit und nach Sicherheit suchenden Lesern als Gegengewicht gegen den Andrang falscher Meinungen und als Heilmittel wider die Ansteckung durch die verderbliche Zeitgesinnung dienen könne. Der über alle Hoffnung günstige Erfolg berechtigt zu der bescheidenen Zuversicht, daß es sich für diese Aufgabe nicht ganz unbrauchbar erwiesen haben dürfte. So groß auch die Gefahr der Ansteckung durch die Irrtümer der Gegenwart sein mag, so weiß doch der Herr die Seinen zu warnen und vor dem Verderben zu beschützen.

3. Der Trost über dieses erfreuliche Erlebnis darf uns aber nicht die betrübende Tatsache verkennen lassen, daß der Zeitgeist seinen Weg fortsetzt und mehr und mehr Eingang in die Reihen der Gläubigen zu gewinnen sucht. Sollen wir die ganze religiöse und sittliche Gefahr der Gegenwart in einem einzigen Satz zusammenfassen, so muß dieser lauten: Kampf gegen das Übernatürliche, wenn nicht bis zur Leugnung, so doch bis zur Ausschließung aus dem öffentlichen Leben, zum mindesten Schwächung des übernatürlichen Denkens und Lebens, dafür aber ungemessenes Vertrauen auf die irdischen Kräfte, orf sogar ausschließliche Hervorhebung des Natürlichen oder, besser gesagt, des Weltlichen.

4. Lange Zeit hat sich dieser Zug so sachte kundgegeben, daß er sich den Blicken der Mehrzahl verbarg, und daß die Besten an Übertreibung dachten, wenn man auf die von ihm drohende Gefahr hinwies. Um so leichter konnte er seinen stillen Gang fortsetzen, Und nun tritt er endlich so offen hervor, daß eine Täuschung über seinen wahren Gehalt fast nicht mehr ohne Sünde möglich ist. Worte, die noch vor einem Jahrzehnt im Munde von Katholiken undenkbar gewesen wären oder jedenfalls allgemeinen Aufruhr erregt hätten, wagen sich jetzt an die Öffentlichkeit, und wenn sie auch noch vielfach Verwunderung hervorrufen, so schweigen doch die meisten dazu, indem sie sich mit dem Gedanken beruhigen, das Auffallende daran sei nur die Neuigkeit, habe man sich einmal mehr an sie gewöhnt, dann werde man sie schon besser verstehen lernen, So kommt es, daß einflußreiche katholische Stimmführer der Gegenwart ohne Bedenken sagen dürfen, „man müsse aus den Exerzitien des hl. Ignatius den ersten Satz tilgen, daß alles dem übernatürlichen Ziel unterzuordnen sei; es gebe ja doch nicht bloß übernatürliche Güter, sondern auch natürliche, und diese kommen bei Ignatius zu kurz“.

5. Man könnte für diese Worte insofern dankbar sein, als es kaum möglich ist, den Inbegriff der modernistischen Geistesrichtung in kürzere und klarere Form zu fassen. Denn wenn es wahr ist, daß die großen Wirren der Zeit auf die Frage vom Verhältnis zwischen Natur und Übernatur zurückzuführen sind, und sicher ist dies wahr, dann zeigen die angeführten Worte mit erschreckender Deutlichkeit, bis zu welchem Grade die Abweichung von der Wahrheit bereits gediehen ist.
     Ebendeshalb gebührt ihnen aber nicht bloß Verwunderung, sondern das tiefste Entsetzen. Denn sie beweisen, daß der Grundgedanke des modernen Geistes, die völlige Losreißung des Natürlichen vom Übernatürlichen, selbst für gläubige Christen, dank dem rückhaltlosen Verkehr mit der Welt, das Erschreckende zu verlieren droht. Möge Gott verhüten, daß er noch weitere Fortschritte mache und dadurch uns allmählich vertraut werde.

6. Zu diesem Zweck muß aber auch von uns das Mögliche getan werden. Dazu gehört vor allem die Wiederauffrischung der katholischen Lehre vom Zusammenhang der beiden Welten, der natürlichen und der übernatürlichen.
     Über diesen wichtigen Gegenstand mögen hier einige Zeilen als Anhang zur Lehre von der Gnade hinzugefügt werden. Es handelt sich hierbei nicht um eine ausführliche Darlegung des ganzen Gegenstandes, sondern bloß um die Hervorhebung jener Sätze, über die jeder Christ im reinen sein muß, wenn er sich in den schwierigsten und einflußreichsten Fragen der Gegenwart sicher zurechtfinden will.

7. Gott hätte den Menschen, wie die katholische Theologie so ziemlich einmütig lehrt, im Zustande der reinen Natur erschaffen und belassen können, ohne ihm das mindeste Gut, auf das er Anspruch hätte erheben können, dadurch vorzuenthalten, und ohne ihm ein Unrecht anzutun, wenn er ihn nicht zur übernatürlichen Ordnung erhoben hätte. Wenn die Kirche diesen Satz auch nicht ausdrücklich als Glaubenslehre erklärt hat, so ergibt sich doch aus ihren Verwerfungsurteilen gegen die widersprechenden Behauptungen der Jansenisten, daß sie unbedingt an ihm festhält. Demzufolge müssen wir glauben, daß Gott den Menschen mit derselben Natur ins Dasein hätte setzen können, mit der wir jetzt geboren werden, selbstverständlich alles abgerechnet, was inzwischen durch die Sünde in die Natur hineingetragen oder in ihr verschlechtert worden ist. Daher der oben gebrauchte Ausdruck „reine Natur“.

8. In Wirklichkeit hat aber Gott den Menschen bei seiner Schöpfung sofort in den Zustand der übernatürlichen Ordnung versetzt. Das darf nicht so verstanden. werden, als ob Gott die Natur des Menschen übernatürlich gemacht hätte, denn das widerstreitet dem Begriffe der Natur. Vielmehr hat Gott zur Natur die Übernatur hinzugefügt oder, besser gesagt, die Übernatur, wie ja das Wort klar andeutet, über die Natur ausgegossen oder ausgebreitet und so die Natur zur Mitwirkung am übernatürlichen Berufe erhoben, jedoch ohne sie selber in ihrem Wesen zu verändern.

9. Infolge hiervon hat der erste Mensch im Paradies gelebt als Angehöriger von zwei Welten, die in ihm geeinigt und doch nicht miteinander vermischt waren. Durch seine Natur gehörte er der natürlichen Ordnung an, durch seine übernatürliche Berufung und Ausstattung der übernatürlichen Ordnung.
     Da keine der beiden Ordnungen die andere beeinträchtigt, so folgt daraus, daß der Mensch geschaffen ist mit der Fähigkeit und mit der Aufgabe zu einer doppelten Lebensrichtung, einer natürlichen und übernatürlichen Erkenntnis, einer natürlichen und übernatürlichen Liebe zu Gott, folglich einer natürlichen und übernatürlichen Sittlichkeit, und ebenso einer doppelten Übung der Religion, und endlich einer natürlichen und übernatürlichen Seligkeit.

10. Um seine natürliche Aufgabe auszuführen und um dann den Lohn für deren getreue Erfüllung, die natürliche Seligkeit, zu genießen, besäße der Mensch hinreichende Kräfte in seiner Natur, solange sie durch die Sünde nicht geschwächt und nicht entstellt wäre. Von Seiten Gottes bedürfte es hierzu keiner weiteren Unterstützung als der natürlichen Beihilfe, des sogenannten concursus naturalis.

11. Damit er seiner übernatürlichen Bestimmung entsprechen könne, verlieh ihm Gott alle jene Gnaden, von denen im vorstehenden Buche [Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade] ausführlich die Rede gewesen ist. Zuerst schenkte er ihm die übernatürliche Gabe der leiblichen Unsterblichkeit und dazu jene wunderbare Harmonie, kraft deren alle Anlagen und Fähigkeiten des Menschen in vollkommenster Einheit zum tauglichen Werkzeuge der Gnade erhoben wurden. Die leiblichen Kräfte, frei von aller hinderlichen Regung, dienten willig dem Geiste, die Affekte dem Willen, der Wille fügte sich ohne Schwierigkeit dem Gebote der Gott unterworfenen Vernunft.
     Diese beiden Gaben bildeten aber erst die übernatürliche Unterlage für die eigentliche übernatürliche Ausstattung, für die Berufung zur Kindschaft Gottes und für deren Frucht, die übernatürliche Seligkeit im Genuß und in der persönlichen Anschauung Gottes. Auf dieses letzte Ziel hin waren alle übernatürlichen Gaben berechnet, zumal die übernatürliche Erleuchtung des Verstandes durch das Licht des Heiligen Geistes, und die übernatürliche Stärkung des Willens durch jene Kraft desselben Heiligen Geistes, die man Gnade im engeren Sinn oder die wirksame Gnade nennt.

12. Wenn bei all dem stets der Ausdruck Gnade gebraucht wird, so darf das jedoch nicht so verstanden werden, als ob die ganze Eröffnung der übernatürlichen Ordnung bloß ein Privileg, d.h. eine leere Vergünstigung gewesen wäre, eine Auszeichnung, von der jeder Gebrauch machen dürfte, wenn es ihm beliebte, auf die er aber auch Verzicht leisten könnte, wenn er auf sie keinen Anspruch erheben wollte.
     Im Gegenteil. Die Berufung zum übernatürlichen Ziel ist nicht nur eine Einladung, nicht nur eine Ermunterung, sondern eine göttliche Anordnung, durch die das ganze menschliche Geschlecht auf eine höhere Stufe als die seiner natürlichen Ausstattung erhoben wurde. Die Bestimmung des Menschen für das übernatürliche Ziel ist somit ein Gebot von Seiten Gottes und eine Verpflichtung auf Seiten des Menschen.
     Und zwar gilt dies für alle Menschen ohne Ausnahme, für alle menschlichen Einrichtungen und Gesellschaften, für alle Zeiten, für alle Kulturstufen, für alle menschlichen Tätigkeiten und Errungenschaften, die der einzelnen wie der Gesamtheit.

13. Dabei ist noch ganz besonders zu beherzigen die allgemeine Lehre der Theologie, daß Gott nicht etwa den Menschen zuerst bloß als Menschen im Stande der reinen Natur erschaffen und ihn dann später zum Kinde Gottes gemacht und so in den Stand der übernatürlichen Ordnung versetzt hat. Vielmehr hat er ihn ursprünglich durch eine und dieselbe Schöpfertätigkeit zugleich als Menschen und als Kind Gottes ins Dasein gerufen, und ihm seine natürliche und seine übernatürliche Bestimmung miteinander auferlegt. Der Mensch kann also nach eigenem Belieben weder seiner natürlichen Aufgabe noch seiner übernatürlichen Verpflichtung entsagen. Beides ist ihm durch einen einzigen Schöpferwillen auferlegt und durch eine einzige Schöpfertat verliehen wie Leib und Seele, so verschieden auch beide ihrem eigenen Wesen nach sein mögen.

14. Daraus ergibt sich die grundwesentlichste aller Wahrheiten, von denen das ganze Leben der Menschen und das ganze Wirken der Menschheit bedingt ist, die Wahrheit, daß es für den Menschen wie für die Menschheit nicht zwei getrennte Ziele gibt, ein natürliches und ein übernatürliches, wie die Pelagianer meinten, sondern nur eines, das übernatürliche letzte Endziel. Nicht als ob das natürliche Endziel aufgehoben wäre. Es besteht fort, geradeso wie es bestanden hätte, wenn der Mensch im Stande der reinen Natur geschaffen worden wäre. Nur besteht es nicht mehr unabhängig vom übernatürlichen Ziel. Es ist diesem untergeordnet, ja mehr noch, es ist ihm eingeordnet. Nur im übernatürlichen Ziel erreicht der Mensch sein natürliches Ziel, wie der Leib nur seine Bestimmung erreicht, wenn die Seele ihr Ziel erreicht. Verfehlt oder verleugnet er das übernatürliche Ziel, so erreicht er auch das natürliche nicht. Will er dem übernatürlichen Ziel und der übernatürlichen Aufgabe entsagen, so versündigt er sich zugleich gegen die übernatürliche und die natürliche Ordnung. Denn die Erhebung zur Übernatur ist ihm durch die Schöpfung verliehen zugleich mit seiner Natur; somit hat sie die Bedeutung und die Kraft eines Naturgesetzes. Jede Verletzung der Übernatur rächt sich deshalb an der Natur, und durch jede Verleugnung des übernatürlichen Zieles wendet sich der Mensch von seinem natürlichen Ziel ab.

15. So erklärt sich all das Unheil, das über den Menschen durch die Sünde gekommen ist. Nach der pelagianischen Auffassung hätte er freilich nur alles Übernatürliche verloren und wäre dadurch einfach wieder in den Zustand der bloßen Natur zurückgetreten. Aber dem ist nicht so. Die Übernatur ist kein Kleid, das dem Menschen nur äußerlich übergeworfen ist. Wäre dies der Fall, dann könnte sie wieder ausgezogen werden, ohne daß die Natur Schaden litte. Ist sie aber mit der Natur verwachsen wie die Oberhaut mit der Hand – ein freilich nicht ganz zutreffendes Bild –, so kann man sich ihrer nicht entledigen, ohne daß die Natur schwer beschädigt würde. Und das ist tatsächlich der Fall. Nach der Lehre des Glaubens ist der Mensch durch die Sünde nicht bloß des Übernatürlichen beraubt, sondern auch verwundet in den natürlichen Gütern.
     Die Natur ist nicht völlig verwüstet noch völlig unfähig geworden für alle natürlichen Aufgaben, wie manche Irrlehrer behaupteten. Jedoch, mag man auch die natürlichen Folgen der Sünde so maßvoll einschränken, als es nur immer möglich ist, das läßt sich nicht leugnen, daß großes Verderben in die Natur eingedrungen ist. Dafür haben wir die Lehre der Heiligen Schrift (Röm 7,14) und die der Kirche (Conc. Trid. Sess. 5.) als Zeugen, von der eigenen Erfahrung nicht zu sprechen.
     Was aber die Gaben der Übernatur betrifft, so ist es Glaubenslehre, daß diese völlig verloren gegangen sind.

16. Damit ist schon gesagt, daß die Berufung zum übernatürlichen Ziele durch die Sünde keineswegs vernichtet worden ist. Sie ist eben nicht nur Gnade, sondern auch Gebot. Dieses aber blieb. Der Mensch konnte sie nicht dem Schöpfer mit Dank oder mit Undank zurückgeben und ihm erklären, er wolle sich mit seiner natürlichen Bestimmung begnügen. Das wäre eine höchst einfache Sache, könnte er sich ohne weiteres seiner höchsten Verpflichtung durch kurze Verzichtleistung entledigen. Dadurch hörte die Sünde auf, Sünde zu sein, und würde zu einer Art von freiwilliger Thronentsagung und zum Zurücktritt eines Fürsten ins Privatleben. Aber davon ist sie weit entfernt. Sie ist eine Auflehnung gegen Gott, ja ein Angriff auf die Oberherrschaft Gottes selber. Deshalb die Größe der Strafe. Der Mensch ist durch das Urteil Gottes der Thronfolge, d. h. der Teilnahme an den Rechten, die dem Sohne Gottes gebühren, beraubt worden, und nicht bloß der Teilnahme daran, sondern der Fähigkeit, zu diesen zu gelangen. Nur die Pflicht, sich ihrer würdig zu machen, konnte er nicht von sich abschütteln. Darin besteht ja das, was man Erbsünde nennt. Das ganze Menschengeschlecht hat sich durch seine Schuld aller übernatürlichen Gaben beraubt, die ihm Gott verliehen hatte, damit es zum übernatürlichen Ziele gelange. Das Ziel aber ist ihm geblieben. Dieser Zustand der schuldbaren Unfähigkeit, seine höchste Verpflichtung zu erfüllen, ist das eigentliche Wesen der Erbschuld.

17. Nun hat sich freilich Gott des unglücklich gewordenen Menschengeschlechtes wieder erbarmt und es zum zweiten Male durch die Gnade der Erlösung in den Zustand der Übernatur erhoben [sofern jemand durch Glaube und Taufe die Erlösung annimmt]. Dieser neue Gnadenstand ist jedoch nicht in allen Stücken dem ersten völlig gleich. Was die übernatürlichen Gaben im strengen Sinne des Wortes betrifft, so sind uns diese allerdings wieder zurückerstattet, in mancher Hinsieht, so darf man wohl sagen, kräftiger, weil heilsamer als früher. Nur die Gabe der Unsterblichkeit und die der übernatürlichen inneren Harmonie haben wir nicht mehr zurückerhalten. Die Natur aber bleibt geschwächt und verwundet, teils zur Strafe teils zur Übung, wie die Kirche ausdrücklich lehrt. Dies ist der Zustand, in den wir jetzt aus überfließender Barmherzigkeit Gottes abermals eintreten können, wenn wir von der angebotenen Gnade Gebrauch machen wollen.

18. Nach dem Gesagten ist es nicht mehr schwer, die Stellung und die Aufgabe zu erklären, in der wir uns jetzt befinden. Wir besitzen wieder wie im Paradiese durch die Gnade Christi nicht bloß die Pflicht, sondern auch die Möglichkeit, unser wahres, d. h. das übernatürliche Ziel zu erreichen. Dieses Ziel ist auch jetzt unser einziges Ziel, durch dessen Erreichung allein das übernatürliche Ziel erreichbar wird. Ist vor der Sünde das Streben nach dem übernatürlichen Ziele für jeden einzelnen Menschen, für die ganze Menschheit und für alle und jede menschliche Tätigkeit als unabweisliches Gebot aufgestellt gewesen, so ist das jetzt aus doppeltem Grunde der Fall. Ist vor dem Sündenfalle das natürliche Ziel unerreichbar gewesen ohne die Erreichung des übernatürlichen Zieles, so gilt das jetzt in doppeltem Maße. Denn die Natur selber ist nicht mehr, was sie war und was sie sein sollte. War die erste Sünde ein Verbrechen nicht bloß gegen den Herrn der Übernatur, sondern auch gegen den Schöpfer der Natur und rächte sie sich deshalb so bitter auch an der Natur, so rächt sich jetzt jeder Fehler gegen die Anordnung Gottes, derzufolge alles auf das übernatürliche Ziel bezogen werden soll, mit einer neuen und noch tieferen Verwüstung der Natur.

19. Dies genügt, um klar zu machen, wie verderblich die Lehre der Pelagianer war. Sie behaupteten, die Natur habe durch den Sündenfall nichts verloren. Die natürlichen Kräfte des Menschen reichten hin, damit er seine natürliche Aufgabe erfüllen könne, nicht bloß zur Not, sondern vollkommen. Deswegen solle er zwar die übernatürlichen Kräfte nicht geringschätzen. Sicher könne er mit deren Hilfe seine Aufgabe hier leichter erfüllen und im Jenseits eine höhere Stufe der Herrlichkeit erlangen. Nur das könnten sie nicht zugeben, daß man nicht natürlich rechtschaffen, ja vollkommen leben könne, wenn man die übernatürlichen Hilfsmittel beiseite lasse und sich einzig mit Anwendung der natürlichen Kräfte dem Streben nach dem natürlichen Ziel und der Erfüllung unserer natürlichen Aufgabe widme.
     Mit gerechtem Entsetzen hat der hl. Augustin und hat die Kirche mit ihm diese Irrlehre bekämpft. Denn sie zerstört einerseits die übernatürliche Ordnung und verwüstet anderseits die natürliche Ordnung.

20. Sie beschädigt aber die natürliche Ordnung aus zwei Gründen.
     Zwar besitzt die menschliche Natur auch jetzt noch, im Zustande des Falles, viel Kraft zur Erkenntnis des Wahren und zur Vollbringung des Guten, vielleicht mehr, als unsere Schwächlichkeit oft zugeben will. Gleichwohl kann sie nicht einmal die ganze natürliche Aufgabe des Menschen und der Menschheit erfüllen, wenn sie der übernatürlichen Hilfe entsagt. Denn die Natur ist gefallen und geschwächt. Wenn wir heute von Natur reden, meinen wir nie die reine Natur, sondern nur die gefallene Natur.
     Und war der Sündenfall, d. h. das bewußte und gewollte Absehen vom übernatürlichen Ziel, dem einzigen Ziele der Menschen, zugleich ein Verderbnis für die Natur, dann ist auch heute der Versuch, eine Wissenschaft, eine Sittlichkeit, eine Kultur ausschließlich mit Rücksicht auf die natürliche Aufgabe der Menschheit zu begründen, die Rücksicht auf das übernatürliche Ziel aber auf die Seite zu schieben, kurz, dann ist das Streben nach einer rein irdischen Tätigkeit ohne Beziehung auf das letzte Ziel nicht bloß mangelhaft, sondern verkehrt, schuldbar, Gott mißfällig, und endigt mit Verderben für die irdische Aufgabe selber, zur gerechten Strafe für diese Verkehrtheit.

21. Es ist also nicht bloß eine persönliche Meinung und nicht etwa eine asketische Übertreibung, sondern es ist das katholische Grunddogma, was der hl. Ignatius als ersten Satz in seinen Exerzitien ausspricht mit den Worten: „Der Mensch ist geschaffen zu dem Zweck, um seinen Herrn und Gott zu loben, zu ehren und durch seinen Dienst selig zu werden. Alles andere auf Erden ist geschaffen um des Menschen willen, d. h. um ihn zu unterstützen, damit er den Zweck seiner Erschaffung erreiche. Daraus folgt, daß man sich dieser Dinge bedienen oder enthalten muß, insofern sie zur Erreichung dieses Zieles förderlich oder hinderlich sind.“


06. Juli 2015


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