„Die Maler damals erfüllten einen Auftrag als Christen“
Abschnitt aus dem Buch: Wo bitte geht’s zu Raffael
von Joachim Fernau


Sie waren Besucher Nummer 1805 bis 1812. Schon die Eingangshalle glich einem Jahrmarkt. Die beiden Fahrstühle waren überfüllt und belagert. Nur die geschlossenen Touristengruppen, ihren Führer an der Spitze, stiegen die langen Treppen hinauf. Gabriella hielt sich ungeniert die Nase zu, als sie an den Aufzügen vorbeiging, und verlangte die Erklimmung der Uffizien zu Fuß. Vater und Sohn Benito und Frau Bellini griffen nach der ersten Kehre tüchtig ins Geländer und hangelten sich hoch, sie sahen aus wie eine Seilschaft. Die Uffizien befinden sich leider unter dem Dach.
     Am Drehkreuz hing die nächste Menschentraube. Italienische Kleinkinder schlüpften den Wärtern zwischen den Beinen durch, während ihre Mütter ihnen nachkreischten, Amerikaner kauten in Geduld Gummi wieder, deutsche Familien tauschten untereinander die schon gekauften Kartenstöße aus. Engländer lasen im Florence-Guide. Benito merkte man an, daß er gerne umgekehrt wäre.

Das Oktett steuerte dem ersten Saal zu. Salvini hat ihn, als er noch Direktor der Uffizien war, umgebaut von einem Renaissance-Salon zu einer kahlen romanischen Zelle, denn er beherbergt Giotto und Cimabue, die Erzväter der Florentiner Malerei. Die beiden riesigen starren Madonnentafeln, das Entzücken der Kenner, sind das Luminal aller anderen, die sich nur durch strengste Blicke der Reiseführer einschüchtern und in ihrer Flucht nach vorn bremsen lassen.
     Auch Benitone und Benito kurvten hindurch und zogen ihr Gefolge hinter sich her. „Tut mir leid – sagte der Wasserbohrer – kann nichts damit anfangen. Bin wohl zu dumm dazu. Diese Alten konnten nicht malen. Oder? Keine Perspektive. Das ist doch alles falsch. Bin ich blind? Der Stuhl, der Thron, fällt nach vorn. Und überhaupt, wie das alles aussieht. Konnten sie nun malen oder konnten sie nicht? Tut mir leid. Wo geht's zu Raffael?“

Gabriella hielt Hans am Ärmel fest und blieb vor dem Giotto stehen. „Warte! Lass sie gehen.“
     Sie betrachtete lange das Bild. Dann sagte sie: „Hans! Ich frage dasselbe wie mein Onkel, der Dummkopf: Konnten sie nun oder konnten sie nicht? Kannst du mir helfen?“
     „Möchtest du denn?? Warum? Wozu?“
     „Vielleicht entgeht mir etwas Schönes? Vielleicht brauche ich nur ein paar Worte?“
     „Ich werde es nicht können, Gabriella.“
     „Versuch's.“
     „Es wird dich langweilen.“
     „Du bist wohl verrückt?“
     „Also, dein Onkel fragt, ob Giotto überhaupt richtig malen konnte. Nein, Gabriella, er konnte es nicht. Giotto hat das Bild kurz nach 1300 gemalt. Ach, wir müssen einmal alle zusammen ins Mugello-Tal fahren, wo er geboren ist, in Colle di Vespignano stehen noch Reste seines Hauses!“
     „Lenk jetzt nicht ab!“
     „Ich muß überlegen, Gabriella. Ich habe gesagt, Giotto konnte nicht richtig, in unserem Sinne richtig, malen, Wenn dir ein Geheimniskrämer einmal etwas anderes sagt, glaub ihm nicht. Er macht dir nur was vor. Giotto konnte keine Atmosphäre malen, er beachtete die Gesetze der Perspektive nicht, er malte in Lokalfarben, das heißt, er nahm alle Farben wörtlich, ohne sie durch Luft, durch Sonne und Schatten oder durch die Entfernung vom Betrachter zu verändern. Rot war rot, und blau war blau; nicht mehr ganz so naiv, wie dort rechts auf dem Bild von Cimabue, aber beinahe. Seine Größenverhältnisse stimmen nicht immer und manchmal nicht einmal die Umrisse. Wenn dein Onkel das alles nicht vertragen kann, ist er nicht zu widerlegen. Dann muß er weitergehen.“
     „Also. Kommt es jetzt?“
     „Ja, jetzt kommt es: Giotto und Cimabue haben von Perspektive kaum etwas gewußt, aber nicht, weil sie sie nicht begriffen hätten, sondern weil sie sie nicht interessierte. Und sie interessierte sie nicht, weil sie sie nicht brauchten. Denn ein Maler sollte nicht fotografieren, er sollte etwas ganz anderes. Verstehst du es bis dahin?“
     „Natürlich. Weiter. Spannend.“
     „Die Maler damals erfüllten einen Auftrag. Ich meine nicht, daß sie von der Kirche beauftragt waren, sondern daß sie einen inneren Auftrag erfüllten, den Auftrag als Christen, den einzigen Auftrag, den sie sich für einen Maler oder Bildhauer überhaupt vorstellen konnten. Wie weit ihnen die Idee, etwa ein privates Portrat zu malen, fernlag, siehst du ja schon daran, daß wir nicht ein einziges aus jener Zeit kennen, kein Bildnis, keine Landschaft, keinen Blumenstrauß, kein Stilleben, kein Genrebild aus dem Alltag. Nichts. Nur Lobgesänge.“
     „Schön sagst du das. Weiter.“
     „Und nun stell dir vor, was sie dazu brauchten. Perspektive? Licht und Schatten?“
     „Sie brauchten es nicht, aber es hätte nicht geschadet.“
     „Siehst du, Gabriella! Das ist eben die große Frage. Das ist eben das Geheimnis jener Zeit. Wenn du heute ein Plakat an der Wand siehst, sagen wir ein Plakat für eine Kaffeesorte mit einem stilisierten Kaffeepflücker drauf, fragst du dann auch, warum sind die Haare nicht eingezeichnet, warum sind die Sträucher nur grüne Kleckse, ohne daß man ein Blatt erkennt, und warum ist die eine Kaffeebohne, die er uns zeigt, viel zu groß? Sagst du dann auch, es könnte nicht schaden? Nein. Denn du weißt, daß das alles unwichtig ist im Hinblick auf den Auftrag, den der Plakatmaler halte, nämlich deinen Blick festzunageln, dich auf das Wichtigste zu konzentrieren. Natürlich gibt es heute auch Plakate, die fotografisch genau sind, aber für den echten Kaffee-Süchtigen – entschuldige den Ausdruck im Zusammenhang mit dem Christentum – für den echten Glaubenssüchtigen ist das nicht nötig. Ihm genügen Symbole, feierliche Plakate, du weißt, was ich meine; ja sogar: je biblischer und archaischer das Angedeutete ist, desto wuchtiger erschien es ihm. Ach, ich erkläre das wohl miserabel...“
     „Weiter!“
     „Das ist eigentlich alles, Gabriella. Die Schwierigkeit, solche Bilder zu genießen und zu verehren, liegt darin, die damalige Seelenhaltung, die Inbrunst nachzufühlen, verstehst du? Es kommt natürlich hinzu, daß Giotto und Cimabue am Anfang der ganzen abendländischen Malerei stehen, daß sie also geschichtlich verehrungswürdig sind, und daß diese Bilder ganz, ganz seltene, wertvolle Zeugnisse jener Zeit sind. Es ist also auch eine Sache des Verstandes, des Wissens. Es ist ja keine Schande, das zuzugeben. Nur Heuchler tun wunder was.“
     „Du bist lieb, du großer Kerl, du.“
     Hans lachte und legte für einen kurzen Augenblick vergnügt den Arm um ihre Schultern: „Schade, daß du nicht mein Ordinarius bist; mir wäre bedeutend wohler.“
     Sie lächelte auch. „So wie jetzt ist es mir lieber.“
     „Möchtest du dir das Bild noch etwas ansehen?“
     „Im Gegenteil. Ich möchte nach Hause geben, Hans.“
     „Das kannst du nicht!“
     „Nein, obwohl ich es gern täte. Ich muß jetzt nachdenken und bei mir tief innen mal nach Wasser bohren. Ich setze mich zu Rivoire, trinke eine Schokolade und warte auf euch. Du gehst den anderen nach und hältst keine Vorträge mehr, verstanden?“
     „Sehr gut verstanden“, antwortete er fröhlich.
     Sie ging tatsächlich.

Hans drängte sich durch die Menge vorwärts in Richtung Raffael. Alle Säle waren voll von Menschen, in allen ballten sich Gruppen um ihre Führer, aus allen Knäueln dröhnte es italienisch, französisch und amerikanisch; kleine japanische Pärchen standen stets etwas abseits und hörten aufmerksam zu. Hans fand seine Gruppe erst im Westflügel; sie hatte Raffael längst hinter sich, stand bereits im 17. Jahrhundert und betrachtete gerade die Landschaft von Herkules Seghers [1589-1645].
     Als Hans hinzustieß, erregte seine Nachricht, Gabriella sitze bei Rivoire, mehr Neid als Verwunderung. Nur Carlo schüttelte sein Haupt, weil er die Zeitdifferenz nicht ganz unterbringen konnte. Leslie wechselte schon seit langem ständig von einem Bein auf das andere. Maurice hatte seine Hand unter den Arm von Frau Bellini geschoben, zweifellos fürchtete er, Gabriellas Mutter könnte verlorengehen. Benito betastete mit den Fingerspitzen die pastose Oberfläche des Bildes, wohl in der Hoffnung, der Alarm würde losbrechen. Es ging keiner los, und Maurice gab darauf in Frau Bellinis Ohr die Geschichte von dem Unbekannten zum besten, der vor Jahren ein Dutzend Bilder verstümmelt hatte, ohne je erwischt worden zu sein.

Benitone gefiel der Seghers.
     „Das ist was – sagte er – das ist was. Der Mann kann was. Das ist alles so natürlich. Warum nicht gleich? Die Landschaft ist ja nicht gerade angenehm, nicht? Rauh. Wenn ich sie so ansehe und meinen Gedanken freien Lauf lasse, könnte ich beinahe selbst lachen, denn ich denke sofort: Könnte man hier Wasser finden? Hinten im Tal natürlich, kein Problem, in zehn Meter Tiefe bin ich dran. Aber hier oben in dem Felsengeröll? Diamine! Sehen Sie, Sir, das ist eben unser Risiko, wir berechnen pro Meter, gleichgültig ob leichter Boden oder Fels. Sie müssen sich das hier auf dem Gemälde nur mal ansehen! Der Eindruck ist wirklich wunderbar. Siehst du, Benito, so ein Bild verstehe ich; die alten Giottos und wie sie alle heißen, nicht. Das hier kann man lange ansehen. Hier kann man direkt Erinnerungen an die Wirklichkeit haben. Das ist der Unterschied.
     „Nein – sagte Benito, und in diesem Augenblick bekam sein Gesicht den Ausdruck eines erwachsenen Mannes – nein, das ist nicht der Unterschied, Babbo. Wie soll ich mich ausdrücken, ich habe nicht studiert, leider. Kunst hätte ich ganz gern studiert. Ich meine, Babbo: Vor der alten Madonna mußt du beten, nicht? Kannst du vor diesem hier beten? Brauchst du nicht. Das ist es. Denke ich jedenfalls.“ Benitone ließ den Blick von Seghers zu seinem Sohn und von seinem Sohn zu Seghers wandern, als wüßte er nicht, wen er verraten sollte. Dann sagte er kurz entschlossen: „Richtig.“

Sie verließen den Saal, der so viele Erkenntnisse gebracht hatte.
     „Wohin führt diese Treppe?“ fragte Benitone auf dem Flur.
     „Hier geht es raus“, flötete Leslie.
     Dieses Wort wirkte auf Benitone wie die Trompete von Mars-la-Tour. Die ganze Schwadron folgte ihm zum Ausgang.


24.08.2022


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